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Beschreibung

Eine parkähnliche Landschaft mit mächtigen Laubbäumen erstreckt sich um einen Bauernhof bei Bönigen im Berner Oberland, eine Ziegenherde verstreut sich im Gelände, die Bäuerin hat mit einem Rechen Laub gesammelt, das sie in einem Korb zum Stall trägt: Die kolorierte Umrissradierung aus dem Jahr 1808 zeigt ein für diese Zeit typisches Bild einer Landwirtschaft in den alpinen Berggebieten, für die der Wald nicht nur seines Holzvorrates wegen von überragender Bedeutung war. Er diente als Weide zur Heugewinnung, für den Feldbau und zur Früchtegewinnung. Zudem als Quelle von Nadel- und Laubfutter, Streue für den Stall und er lieferte in Form von getrocknetem Laub auch das Füllmaterial für Matratzen. In den zwei Jahrhunderten zuvor hatte sich eine Agrarrevolution abgespielt: Die Kartoffel und der Mais ersetzten nach und nach den einst weit verbreiteten Ackerbau und im Flachland stellten viele Bauern auf Milchwirtschaft um. Auch der Käse, in vielen alpinen Gebieten das wichtigste Exportprodukt, wurde zunehmend dort produziert. Die Berggebiete hatten das ökonomische Nachsehen, sahen sich aber zunehmend auch einem starken Druck von seiten der Forstwirtschaft ausgesetzt, die sich unter einem «guten Wald» etwas ganz anderes vorstellte als dies in den Jahrhunderten zuvor der Fall gewesen war. Man sprach vom «Plünderwald», der durch die Eingriffe der Landwirtschaft zugrunde gerichtet werde. Letztlich ging es um einen Nutzungskonflikt mit einigem sozialen Sprengstoff, der durch eine ökonomische Krise verschärft wurde, in welche die traditionell in der Milchwirtschaft starken Berggebiete geraten waren. Die Einführung von Kartoffel und Mais hatten den traditionell verbreiteten Ackerbau weitgehend verdrängt. Der für die Viehhaltung in Ställen unerlässliche Stroh wurde zur Mangelware. Ersatz gab es, abgesehen von Schilfgürteln und Sumpfgebieten (wurden im Herbst abgemäht), praktisch nur im Wald. Das starke Bevölkerungswachstum und die zunehmende Verarmung breiter Schichten der Bergbevölkerung zwangen viele in die Emigration und jene, die zurückgeblieben waren, in eine prekäre Existenz am seidenen Faden: Die intensive Nutzung des Waldes zu einer Überlebensnotwendigkeit. In zeitgenössischen Beschreibungen ist von praktisch leergefegten Waldböden die Rede, im Berner Oberland sei das Buchenlaub so sorgfältig zusammengewischt worden, «dass man oft die zurückgebliebenen Blätter zählen könnte», hiess es in einem forstwirtschaftlichen Bericht von 1874. Die «Waldstreue», zu der nicht nur die Blätter von Laubbäumen, sondern auch Nadeln, Farne, Moos, Gras und Erde gehörten, war in vielen Bergregionen der Alpen wirtschaftlich von weit grösserer Bedeutung als der reine Holzschlag. Dazu zählte auch das Scheiteln, das Abschneiden der unteren Äste von Laub- und Nadelbäumen. Es ging dabei nicht nur um die Streue für den Stall, sondern auch um Futter für das Vieh, insbesondere die Ziegen, die als «Kuh des armen Mannes» galten. Die Milch von zwei Ziegen nährte eine oft landlose, fünfköpfige Familie. Die Tiere weideten während des Sommers im Wald und wurden im Winter mit Laub, Nadeln, Moos und Flechten durchgefüttert. Es kam zu Nutzungskonflikten mit der Forstwirtschaft, deren Exponenten vom Menschen als «Waldschädling» sprachen, der «insbesondere durch Weidgang und das Sammeln der Waldstreue» die Lebenskraft des Waldes untergrabe, wie es noch 1939 im Handbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft hiess. Schon Jahrzehnte früher war es in der Schweiz zu gesetzlichen Regelungen zur Unterbindung dieser Nutzungsformen gekommen. Mehrere Überschwemmungskatastrophen in den Tälern waren in ursächlichem Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Nutzung der Bergwälder gestellt worden. Durchsetzen liessen sich die neuen Regeln angesichts purer Not in vielen Bergtälern aber kaum. Gelöst wurde der Konflikt zum einen durch die bessere Erschliessung des Berggebietes, das Aufkommen von Tourismus und anderen, neuen Erwerbsformen sowie durch die starke Subventionierung der Berglandwirtschaft. Die teils halboffenen, sehr artenreichen Waldlandschaften dieser Zeit, der fliessende Übergang von Wald zu Feld und Wiese sind Geschichte und werden als naturschützerische Massnahme, etwa zur Erhaltung des Auerwildes, das auf offene Flächen angewiesen ist, mit der Motorsäge wieder geschaffen. Der «gute Wald» hat sich als wandelbar erwiesen.

Literatur

Martin Stuber und Matthias Bürgi. Agrarische Waldnutzungen in der Schweiz 1800 - 1950, in drei Teilen erschienen in der Schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen, Schweiz. Z. Forstwes. 152 (2001) 12: 490–50
Siegrfied W. des Rachewiltz (Hg.). "a Lailach voll Lab". Zur traditionellen Streugewinnung im Tirol. Dorf Tirol. 1996.